In der Wissenschaft werden die Technische Analyse und die Chartanalyse oft belächelt. Und das zurecht – zumindest dann, wenn man die Welt aus der theoretischen Perspektive betrachtet. Zitate wie das folgende zeigen deutlich, wie man in der Forschung (auch heute noch) mit dem Thema umgeht.
„Technical analysis is anathema to the academic world. We love to pick on it. […] (1) the method is patently false; and (2) it’s easy to pick on. And while it may seem a bit unfair to pick on such a sorry target, just remember: it is your money we are trying to save.“ [1, S. 1732]
Das ist eine klare Ansage. Eine, die man sich als Wissenschaftler zweimal überlegen sollte – angesichts der Tatsache, dass auch weltberühmte Nobelpreisträger beratend an Bord waren, als im Jahr 1998 der Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM) mit scheinbar wasserdichten Strategien grandios scheiterte.
Die Mehrheit der Forscher wird heute zustimmen, dass die Märkte nicht vollständig effizient sind. Klare Erkenntisse wie die Übervolatilität an den Märkten und das Informationsparadoxon zeigen eindrucksvoll, dass eine vollständige Effizienz nichts als ein theoretisches Konstrukt sein kann.
Das allein ändert aber nichts am Stand der Technischen Analyse. Darüber lächeln nach wie vor die meisten. Allerdings nicht deswegen, weil man weiß, ob es funktioniert oder nicht – denn das kann kaum jemand ohne Weiteres nachweisen. Zudem sind die meisten Forscher reine Theoretiker und handeln in den seltensten Fällen aktiv, sodass sie die richtige Anwendung der Technischen Analysen nicht erlernt haben.
Der Vorwurf ist eher, dass Technische Analyse unwissenschaftlich ist. Hokuspokus und Kaffeesatzleserei. Dieses Argument lässt sich gut nachvollziehen. Es fehlt in der Technischen Analyse und der Chartanalyse an schönen, formal schlüssigen Modellen, die uns die Welt erklären (was allerdings keine Garantie ist, dass es dann tatsächlich funktioniert). In der Praxis gibt es außerdem zu viele haltlose Indikatoren und Umsetzungsmöglichkeiten, die das Gebiet zu einem undurchschaubaren Dschungel an Variationen machen.
Soviel zur Kritik an der Technischen Analyse. Kommen wir nun zur anderen Seite der Medaille. Zunächst gibt es durchaus einige Punkte, die dafür sprechen, dass die Märkte ineffizient sind:
● Interpretation. Die Technische Analyse streitet nicht ab, dass die Kurse (fast) alle Informationen beinhalten. Ganz ähnlich, wie es die EMH fordert. Allerdings geht es nicht nur um die Informationen an sich, sondern um deren richtige Interpretation – also um die Frage, ob die Märkte auch bewertungseffizient sind. Und das sind sie angesichts der Kursbewegungen, die wir beobachten können, eher nicht.
● Antizipation. Ein weiterer Effekt ist, dass die Marktteilnehmer Menschen sind, die bewusst handeln. Entsprechend beinhalten die Kurse bestimmte Erwartungen für die Zukunft. Darauf basiert ein weiterer Effekt, den schon der weltbekannte Ökonom John Maynard Keynes im sogenannten “Beauty Contest” beschrieb. Marktteilnehmer versuchen demnach zu antizipieren, was andere antizipieren, um sich so einen Vorteil zu verschaffen. [2] Auf diese Weise können sich ganze Antizipationsschleifen bilden, die die Kurse von der Abbildung des reinen Informationsgehalts abkoppeln.
● Kurse als Information. Die Marktteilnehmer suchen nicht nur nach fundamentalen Informationen, sondern nehmen auch den Kurs selbst und dessen Bewegung als Information wahr. Auf diese Weise lassen sich je nach Situation sowohl Unter- als auch Überreaktionen erklären. Denn falls der Kurs bereits alle Informationen enthält, aber die Akteure auf diesen Kurs wiederum reagieren, können sich positiv oder negativ rückkoppelnde Feedbackschleifen entwickeln.
● Aktivität vs. Passivität. Ein wichtiger Aspekt, den die Forschung kaum berücksichtigt, ist die Frage nach der tatsächlichen Umsetzung. Nicht alle Marktteilnehmer, die bestimmte Informationen besitzen, handeln auch entsprechend. Vielleicht, weil sie sich unsicher sind oder die Information nur einen kleinen Vorteil erwarten lässt. So kann es sein, dass manche Informationen überhaupt nicht oder nur langsam in die Preisbildung eingehen.
● Gegensätzliche Motive. Damit Kurse entstehen können, braucht es sowohl Käufer als auch Verkäufer. Und diese haben in der Regel gegensätzliche Einschätzungen zur Kursentwicklung (abgesehen von reinen Umschichtungen etc). Wenn wie in vielen Modellen dagegen angenommen wird, dass alle zur gleichen, gleichgewichtigen Einschätzung kommen, würde es vielleicht gar keine Transaktionen geben (und damit keine “effizienten Kurse”).
● Börse als bewegliches Ziel. Die Abläufe hinter den Kulissen, die zur Entstehung des einen Kurses zur Abbildung eines bestimmten Wertes dienen, sind praktisch undurchschaubar. Gerade das ist ja das Ziel: Einen fairen Kurs durch Interaktion aller Marktteilnehmer zu schaffen, den man auf andere Weise nie so schnell und effektiv ermitteln könnte. Was dieser Prozess allerdings nicht erlaubt, ist Perfektionismus. Dieser wird von vielen Modellen angestrebt, muss aber für die Praxis verworfen werden.
● Verhaltenswissenschaftliche Effekte. Die Behavioral Finance kennt eine ganze Reihe an Dingen, die von der rationalen Norm abweichen und Verzerrungen in der Kursbildung hervorrufen können. Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, werde aber bei Gelegenheit einen eigenen Beitrag zu diesem spannenden Thema schreiben.
Es gibt also eine ganze Reihe an Quellen für Ineffizienzen. Aber wieso ist dann der Stand der Technischen Analyse so schlecht – nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Praxis? Wieso muss man Angst um seine seriöse Reputation haben, wenn man das Wort in den Mund nimmt? Schließlich bietet diese Analyseform doch Techniken, um Ineffizienzen zu finden und auszunutzen.
Der Hauptgrund ist wohl, dass es nach wie vor kein geschlossenes Erklärungsmodell gibt. Denn der Erfolg der Analyse ist vor allem von ausreichender Erfahrung des Anwenders abhängig, was sich nur schwer quantifizieren lässt. Andererseits ist genau das ein Argument dafür, dass die Methode an den Märkten, wo ständiger Wettbewerb herrscht und alles Offensichtliche schnell eingepreist wird, funktionieren kann.
Die Masse an den Märkten denkt gleich. Die überwiegende Zahl der Akteure hat eine ähnliche Ausbildung, kennt die gleichen Konzepte und wendet vergleichbare Methoden und Strategien an. Technische Analysten sind dagegen eine echte Randgruppe. Und vielleicht ist das gerade der Grund, warum es ein großer Vorteil sein kann, sich damit zu beschäftigen. Schon immer wurden diejenigen ausgelacht, die anders oder zu alternativ gedacht haben. Nicht immer zurecht.
Und so komme ich zum Fazit aus der Perspektive eines Antizyklikers. Angenommen, fast die ganze Welt hält eine bestimmte Sache für ziemlichen Quatsch. Wäre es dann nicht denkbar, dass man einen Vorteil erzielen kann, wenn man sich als einer von wenigen doch damit befasst? Dass gerade das Chaos an unzähligen Einsatzmöglichkeiten einer der Gründe ist, warum bestimmte Dinge der Technischen Analyse – von der Masse weitgehend unerkannt – immer noch funktionieren?
Könnte es vielleicht sein, dass eine belächelte Minderheit am Ende der heimliche Gewinner ist? Eine Minderheit, die Hokuspokus betreibt und Kaffeesatz liest? Und war es nicht schon immer nur eine Minderheit, die an der Börse wirklich profitieren konnte?
Wir können diese Fragen leider nicht abschließend beantworten. Aus eigener Erfahrung kann ich aber einfach nicht glauben, dass die Technische Analyse haltloser Unsinn ist. Für Wissenschaft und Praxis wäre es ein großer Gewinn, die Funktionsweise sauber zu beweisen oder zu widerlegen. Der einzige Weg, das zu bewerkstelligen, ist der empirische Weg – nicht der theoretische.
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Quellen:
[1] Brock, W. / Lakonishok, J. / LeBaron, B. (1992), Simple Technical Trading Rules and the Stochastic Properties of Stock Returns, The Journal of Finance, Vol. XLVII, No. 5
[2] Keynes, J. M. (1936), The General Theory of Employment, Interest and Money, Neuauflage 2007, Palgrave Macmillan