● Urne 1 (Unsicherheit): enthält 100 Kugeln, aber die Verteilung ist unbekannt. Es kann jede beliebige Kombination enthalten sein, also zwischen 0 und 100 rote Kugeln
● Urne 2 (Risiko): enthält 50 rote und 50 schwarze Kugeln
Nun gibt es 2 Fragen:
● Würdest du lieber auf das Ziehen einer schwarzen oder einer roten Kugel setzen?
● Würdest du deine gewählte Farbe lieber aus Urne 1 oder aus Urne 2 ziehen?
Denk bitte kurz nach und schreib deine Antwort auf. Die typische Antwort auf Frage 1 ist, dass die Wahl der Farbe keinen Unterschied macht. Das macht auch Sinn. Aus den Informationen lässt sich nicht ableiten, ob es wahrscheinlicher ist, bei einer der beiden Urnen rot oder schwarz zu ziehen.
Spannend ist die zweite Frage. Die häufigste Antwort ist, dass Urne 2 bevorzugt wird. Und zwar unabhängig davon, ob eine schwarze oder eine rote Kugel gezogen werden soll. In beiden Fällen entscheiden sich die meisten Akteure für Urne 2.
Das ist das paradoxe: Es wird für beide (!) Farben angenommen, dass eine 50/50-Chance besser ist als eine völlig unsichere Verteilung. Aber es kann nicht sein, dass sowohl das Ziehen einer roten als auch einer schwarzen Kugel aus Urne 2 eine bessere Wahrscheinlichkeit bringt als das Ziehen aus Urne 1 mit einer beliebigen Verteilung.
Denn egal, wie die Verteilung in Urne 1 aussieht – man kann, wenn man zwischen rot und schwarz indifferent ist (Frage 1) aus Sicht der Wahrscheinlichkeiten mit Urne 1 nicht schlechter abschneiden. Und dennoch scheuen wir uns, die unsichere Urne 1 zu wählen und nehmen lieber die riskante Urne 2.
Risiko und Unsicherheit sind nicht das gleiche. Wir nehmen beides auch ganz unterschiedlich wahr. Genau das wurde in unserem kleinen Experiment, das als Ellsberg-Paradoxon bekannt wurde, deutlich. Es zeigt, dass wir Angst vor der Unsicherheit haben. Lieber entscheiden wir uns für ein bekanntes Risiko – auch, wenn es uns überhaupt keinen Vorteil bringt.
Denn eines wird bei unsicheren Situationen oft vergessen oder unterschätzt: Die Chance, dass unser Ergebnis besser ausfallen könnte als gedacht. Die Chance, dass in Urne 1 fast nur rote Kugeln sind, wenn wir uns zuvor für das Ziehen der roten Kugel entschieden haben. Indem wir uns aber oft für ein festes Risiko und gegen die Unsicherheit entscheiden, verzichten wir auch auf die Chancen.
Genau das ist es, was gute Trader gelernt haben. Sie haben verstanden, dass Unsicherheit, die am Markt permanent herrscht, vor allem eine Chance darstellt. Indem man einen Trade gut managt, lassen sich die Unsicherheiten nämlich ganz ähnlich wie Risiken begrenzen. Stellt sich die unsichere Situation dann plötzlich als vorteilhaft heraus, lässt sich daraus Gewinn schlagen – womöglich mehr, als man zuvor dachte.
Das ist es, was die Unsicherheit am Markt ausmacht: Dass im Vorfeld eben nicht absehbar ist (wie Börsengurus immer behaupten), wie das Ergebnis aussehen wird:
● durchschnittlich, wie bei einer 50/50-Verteilung
● negativ (fast nur schwarze Kugeln, wenn man auf rot gesetzt hat); dieses Szenario muss man mittels Risiko- und Moneymanagement im Griff haben
● positiv (fast nur rote Kugeln, wenn man auf rot gesetzt hat); dieses Szenario ist der Lohn des Traders für die übernommene Unsicherheit im Zeitablauf. Und genau dafür gibt es eine überdurchschnittliche Rendite zu erzielen, da viele andere Akteure eben nicht bereit sind, sich der Unsicherheit auszusetzen
Wichtig ist aber, dass zusätzlich (fast) immer auch ein Restrisiko besteht: Angenommen, du hast auf rot gesetzt, un in Urne 1 sind 90 rote und 10 schwarze Kugeln. Die Unsicherheit ist, dass du diese tatsächliche Verteilung im Vorfeld nicht kennst. Das Risiko ist, dass trotz der sehr günstigen Verteilung dennoch eine schwarze Kugel gezogen werden kann.
Es ist also immer eine Kombination aus Unsicherheit und Risiko, die wir an der Börse vorfinden. Außer vielleicht in dem einen, extrem seltenen Fall, in dem wirklich 100 rote Kugeln in der Urne sind. Unsicherheit und Risiko sind also gleich 2 gute Gründe, sich immer an den Handelsplan zu halten, mit kleinen Positionen zu traden und sich nicht zu überschätzen.
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Quellen:
[1] Ellsberg, D. (1961), Risk, Ambiguity, and the Savage Axioms, Quarterly Journal of Economics 75 (1961), Nr. 4, S. 643–669.